Wie lässt sich das Laufen mit Ihrer Lehre in Einklang bringen?
Sri Chinmoy: Laufen lässt sich mit unserer Philosophie sehr gut in Einklang bringen. Gebet und Meditation erinnern uns stets an das innere Laufen. Der einzige Unterschied zwischen innerem und äußerem Laufen besteht darin, dass das innere Laufen kein festgelegtes, bestimmtes Ziel hat. Was das äußere Laufen betrifft, so ist das Rennen vorbei, sobald ich beispielsweise 100 Meter zurückgelegt habe. Ich mag nicht gewinnen, aber ich habe das Ziel erreicht. Was jedoch das innere Laufen angeht, so sind wir Läufer der Ewigkeit. Weil wir beten und meditieren, wissen wir, dass wir drei Freunde haben: Ewigkeit, Unendlichkeit und Unsterblichkeit. Weil wir der Ewigkeit, der Unendlichkeit und der Unsterblichkeit angehören, ist unsere Reise geburt- und todlos; sie ist ohne Anfang und ohne Ende. Wir haben unsere Reise bereits begonnen, wir werden sie jedoch niemals beenden. Unterwegs mögen wir vorübergehend bestimmte Ziele haben. Sobald wir diese aber erreichen, sind sie Ausgangspunkt für neue und höhere Ziele.
Bevor wir in das spirituelle Leben eintreten, wollen wir die Welt besitzen. Unser Ziel ist vielleicht, außerordentlich reich zu werden und andere zu beherrschen wie Napoleon oder Julius Cäsar. Allmählich erkennen wir dann, dass uns ein solches Leben nicht zufrieden stellt. Wir versuchen, unsere Besitzgier zu mäßigen und unsere Wünsche zu verringern. Zugleich sind wir bemüht, unsere positiven Eigenschaften zu verstärken.
Nehmen wir zum Beispiel die Liebe. Als Kind lieben wir all diejenigen, die uns nahe stehen – die unmittelbaren Familienangehörigen. Nach einer gewissen Zeit werden wir uns dann mit unserem Geburtsort identifizieren. Dann beginnen wir, den Bezirk, die Region und schließlich unser Land zu lieben. Aber damit nicht genug. An den Vereinten Nationen sind alle Länder bemüht, eins zu werden. Lasst uns daher versuchen, Weltbürger zu werden und die gesamte Welt zu lieben. Lasst uns einstimmen mit Sokrates, der sagte: „Ich bin kein Athener. Ich bin ein globaler Mensch.“ Sie sehen also, welch großen Fortschritt wir in positiver Hinsicht machen können. Unsere Philosophie ist folgende: alles Negative - Angst, Zweifel, Furcht, Sorge, Argwohn und so weiter – wollen wir verringern und alles Positive werden wir intensivieren. Auf der positiven Seite werden wir versuchen, ein wenig Liebe zu verspüren und diese auszudehnen, bis sie zur universellen Liebe wird. Wir können endlos viel Liebe in uns tragen; wir können sie immer weiter ausdehnen, bis sie nicht nur die Schöpfung Gottes, sondern auch Gott, den Schöpfer, der unendlich ist, einschließt. Wenn wir in der inneren Welt laufen, laufen, wir unaufhörlich die Straße der Ewigkeit entlang.
Der innere und der äußere Läufer sind wie zwei Brüder. Der ältere, stärkere Bruder kann eine sehr lange Strecke zurücklegen. Der jüngere hingegen wird nach einer gewissen Wegstrecke müde, weil wir in physischer Hinsicht begrenzt sind. Nicht nur der Körper, sondern auch der Verstand und das Vitale sind begrenzt. Der äußere Bruder legt daher eine Rast ein und macht sich dann wieder auf – und folgt seinem Bruder, der unentwegt vorwärts geht.
Aber auch auf der äußeren Ebene wächst unsere Fähigkeit ständig. Zum jetzigen Zeitpunkt sind die 1.300 Meilen unser längster Lauf. 1.300 Meilen in 18 Tagen zu laufen ist nahezu jenseits unserer Vorstellungskraft. Wir haben das Gefühl, dass wir damit an die Grenze unserer Fähigkeiten gestoßen sind. Zuvor aber fühlten wir, dass 1.000 Meilen die Grenze seien. Wer hätte vor fünf Jahren einen 1.300-Meilen-Lauf für möglich gehalten? Zum damaligen Zeitpunkt hätte man mich für verrückt erklärt, wenn ich das angeregt hätte. Jetzt aber sehen sie, dass diese verrückte Person Recht hatte, weil es Leute gibt, die diese Distanz laufen. Es muss nur jemand den Anfang machen. Wir müssen unablässig vorwärts gehen, denn Leben bedeutet Fortschritt.
Der innere Läufer versucht stets, den äußeren Läufer zu inspirieren. Erst sagt der innere Läufer, „Los, los, vorwärts, vorwärts!“ Dann sagt der äußere Läufer, „Wie kann ich vorwärts gehen, wenn du mir nicht die Strebsamkeit und den inneren Schrei gibst?“ Dann gibt der innere Läufer dem äußeren Läufer den inneren Schrei, etwas Gutes zu tun und zu etwas Gutem zu werden. Auf diese Weise schenkt der innere Läufer dem äußeren Läufer Inspiration und Strebsamkeit.