Verstand
Warum vergisst der Verstand nach dem Tod die Einzelheiten seiner irdischen Erfahrungen?
Sri Chinmoy: Der Verstand braucht diese Dinge nicht zu behalten. Das wäre genauso unnötig, wie sich daran zu erinnern, was ich heute gegessen habe oder wie das Essen geschmeckt hat, das mir eine Schülerin gekocht hat. Es genügt zu wissen, dass diese Schülerin sehr gut zu mir war und mir etwas zu essen gebracht hat, wann immer ich danach verlangte. Wie oft dies der Fall war und wie das Essen jedes einzelne Mal geschmeckt hat, ist zweitrangig; der Verstand könnte es sich ohnehin nicht merken. Aber ihren selbstlosen Dienst wird er nicht vergessen.
Wie sieht diese Weiterentwicklung des Verstandes aus?
Sri Chinmoy: Wenn der Verstand Fortschritt gemacht hat, wird er versuchen, den erreichten Fortschritt zu bewahren. Wenn dann später eine andere Seele diesen Verstand annimmt, wird er für sie eine größere Hilfe sein. Besitzt ein Verstand einmal ein gewisses Maß an Licht, wird er es auch behalten.
Was ist der Unterschied zwischen Denken und Meditieren oder ist beides das Gleiche?
Sri Chinmoy: Denken und Meditieren sind absolut unterschiedliche Dinge – ganz und gar, grundsätzlich verschiedene Dinge. Denken und Meditieren sind wie Nordpol und Südpol. Der denkende Verstand kann sich niemals von den Fesseln der Unwissenheit befreien. Eine unwissende Person weiß nicht, wie sie ihr Denken verstärken kann, sie hat nur wenige Gedanken. Ein intellektueller Mann fährt vierundzwanzig Stunden am Tag mit dem Denken fort. Aber was erreichen beide auf lange Sicht? Auf lange Sicht erreichen sie nichts. Der eine ist zufrieden mit nur wenigen Gedanken und der andere ist zufrieden mit tausenden von Gedanken und Massen von mentalen Informationen. Aber dort bleiben beide stehen. Keiner von ihnen tritt in irgendetwas Höheres ein.
Wenn wir meditieren, denken wir überhaupt nicht. Das Ziel der Meditation ist, uns von allen Gedanken zu befreien. Am Anfang wehren wir alle ungöttlichen Gedanken oder feindlichen Gedanken ab, wenn sie in uns eintreten. Allmählich wird eine Zeit kommen, da nur göttliche Gedanken, göttliche Ideen auf der Tafel unseres Herzens geschrieben sein werden. Aber wenn wir meditieren, sollten wir Gedanken so gut wie möglich abwehren. Ein Gedanke ist wie ein Punkt auf einer Tafel. Ob er gut oder schlecht ist, er ist da. Nur wenn keinerlei Gedanken da sind, können wir in die Wirklichkeit wachsen. In wahrhaft höchster Meditation wird es überhaupt keine Gedanken geben. Der Verstand ist unbewegt, friedvoll, ruhig. In eingehender Meditation, in tiefer Meditation können Gedanken kommen, aber nicht in der höchsten, tiefsten Meditation. In dem Moment gibt es keine Form, gibt es überhaupt keinen Verstand.
Denken hat nichts mit spirituellem Leben oder Meditation zu tun. Wir müssen über das Denken hinaus gehen. Wie geht man über das Denken hinaus? Durch Strebsamkeit und Meditation. In dem Augenblick, in dem wir mit dem Denken beginnen, spielen wir mit Begrenzung und Gebundenheit. Unsere Gedanken, egal wie süß oder köstlich im Moment, sind auf lange Sicht schmerzhaft, giftig und zerstörerisch, weil sie uns begrenzen und binden. In dem denkenden Verstand gibt es keine Wirklichkeit. Diesen Moment bauen wir ein Schloss und im nächsten Moment reißen wir es ab. Wenn wir mit Hilfe unserer Strebsamkeit und Meditation über das Denken hinausgehen, können wir Gottes Wirklichkeit und Gottes Vision gemeinsam sehen und uns daran erfreuen.