Sri Chinmoy: Für mich ist Sünde eine Art Unvollkommenheit oder Unwissenheit. Es ist nicht zwangsläufig etwas Negatives, das verboten oder verpönt ist. Im Laufe der Evolution bewegen wir uns auf die Vollkommenheit zu, zum jetzigen Zeitpunkt aber geben wir uns noch der Unwissenheit und der Genusssucht hin. Jede unserer unbeherrschten Handlungen ist eine Manifestation unserer gegenwärtigen Unwissenheit. Solange wir in der Unwissenheit bleiben, werden wir etwas falsch machen und Sünden begehen. Wir dürfen aber nicht das Gefühl hegen, wir seien vollkommen verloren oder in Dunkelheit gehüllt. Wir bewegen uns von weniger Licht hin zu mehr Licht und schließlich hin zur Befreiung von der Unwissenheits-Unvollkommenheits-Sünde.
Der Mensch kann sich von der Sünde nur befreien, indem er Gottes ständige Gnade anruft. Gottes Gnade strömt stets kraftvoll und im Überfluss herab, aber die meisten Menschen bemühen sich nicht darum, sie zu empfangen. Wenn sich jemand von seiner Unwissenheit lossagen möchte und danach schreit, Gottes Mitleids-Regen zu erhalten, dann wird er zweifellos von den Fallstricken der Unvollkommenheits-Sünde befreit werden. Aber diese Befreiung wird sich - in dem Maße der zunehmenden Erleuchtung des Betreffenden - nur allmählich vollziehen. Wir dürfen keine plötzliche wundersame Wandlung erwarten, die über Nacht eintritt, obwohl auch dies hin und wieder vorkommt.
Im weitesten Sinne schließt meine Philosophie den Begriff der Erlösung mit ein, jedoch ist damit in erster Linie die Befreiung von der Unwissenheit gemeint. Indem er sich bewusst von der Unwissenheit lossagt, kann der endliche Mensch von heute in den Unendlichen Gott von morgen wachsen. Meinem Verständnis nach lebte und starb der Erlöser Christus, um die Menschheit durch seine eigene irdische Erfahrung von der Unwissenheit und der Unvollkommenheits-Sünde zu befreien.