Befreiung - Erlösung - Erleuchtung

Sri Chinmoy erklärt die Unterschiede von Menschen die Erlösung, Befreiung oder sogar Erleuchtung (Verwirklichung) erlangt haben.

Wusste ein Avatar bereits in seinen Tierinkarnationen, wer er wirklich ist?

Sri Chinmoy: In seinen Tierinkarnationen wusste er es nicht. Ein Teil seines Bewusstseins wusste es zwar, nicht aber sein bewusster Verstand; und solange man etwas nicht mit dem Verstand begriffen hat, kann man sich dessen nicht bewusst sein. Sobald der Avatar jedoch eine menschliche Inkarnation annimmt, die sehr viel höher entwickelt ist als das tierische Leben, wird er es wissen.

Ärgert sich ein Verwirklichter manchmal?

Sri Chinmoy: Ein Verwirklichter kann so genanntem Ärger durchaus Ausdruck verleihen, aber in Wirklichkeit macht er nur von seiner göttlichen Autorität Gebrauch. Würde er dies nicht tun, könnte er so manche Aufgaben nicht erfüllen. Deshalb kann er, wenn es Gottes Wille ist, als letzten Ausweg auch Zorn ausdrücken. Unser menschliches Denken wird es als Zorn bezeichnen, aber in Wahrheit handelt es sich um das herabkommende Licht der Gerechtigkeit.

Im Gegensatz dazu wird es der befreite Mensch nicht wagen, zornig zu werden. Er fürchtet sich vor Zorn, Unreinheit und den vielen anderen irdischen Unzulänglichkeiten. Er weiß, dass er soeben erst aus einem dunklen Zimmer entflohen ist und dass er Gefahr läuft, dort wieder eingesperrt zu werden, sobald er zurückkehrt, um es zu erleuchten. Der Befreite fürchtet sich vor der Vergangenheit, doch der Verwirklichte ist wie ein Soldat. Er weiß, dass er nach seiner Flucht aus dem dunklen Zimmer wieder dorthin zurückkehren muss, um weiter für die Erleuchtung zu kämpfen. Er sagt: "Ich selbst bin zwar aus diesem dunklen Zimmer herausgekommen, aber andere wollen es auch schaffen. Ich will ihnen dabei helfen, sie herausführen und befreien, damit auch sie die Verwirklichung erlangen können." Aber jemand, der absolut und vollständig befreit ist, wird schließlich auch Gott verwirklichen. Eines Tages wird also auch er in den dunklen Raum zurückkehren, um das Göttliche auf der Erde zu manifestieren.

Ist es möglich, Befreiung zu erlangen, ohne Gott je gesehen oder mit Ihm gesprochen zu haben?

Sri Chinmoy: Wer befreit ist, wird eine Art von Frieden, Licht und Glückseligkeit fühlen, die niemand sonst sieht und fühlt. Wenn diese Person Fragen hat, kann sie die Antworten von ihrer eigenen Seele oder einem äußerst lichtvollen Menschen erhalten. Sie besitzt jedoch nicht die Fähigkeiten eines Verwirklichten. Diese sind wie Lieblingskinder der Eltern: Auf einen bloßen Ruf oder ein einziges Lächeln der Kinder hin kommen die Eltern sofort zu ihnen, auch wenn sie gerade sehr wichtige Dinge zu erledigen haben. Im Vergleich dazu sind befreite Menschen wie Ehrenmänner. Sie werden geduldig auf ihre Eltern warten und erst dann wieder fortgehen, wenn die Eltern ihnen sagen, dass heute keine Möglichkeit mehr besteht, sie zu besuchen. Ein Verwirklichter hat einen freien Zugang zu Gott; er braucht nicht zwei Stunden lang zu meditieren, um Ihn sehen zu können.

Im Westen spricht man von Erlösung, doch die Erlösung ist der Befreiung weit unterlegen. Erlösung bedeutet das Freisein von Sünde, aber Befreiung ist viel mehr. Befreiung bedeutet das Freisein von Unwissenheit, einem wesentlich umfassenderen Begriff als dem der Sünde. Sie beschäftigt sich also mit der Unwissenheit, die Verwirklichung hingegen mit den inneren Sonnen.

Was ist der Unterschied zwischen einem befreiten und einem verwirklichten Menschen?

Sri Chinmoy: Befreite Menschen gibt es viele, doch zwi- schen Befreiung und Verwirklichung besteht ein großer Unterschied. Ein befreiter Mensch ist von Unwissenheit, irdischen Unvollkommenheiten und Schwächen befreit. Nun mag er sich zwar davon befreit haben, aber er hat immer noch eine gewisse Angst davor, angegriffen zu werden und seine Befreiung wieder zu verlieren. Nur zu gut kann er sich daran erinnern, wie sehr er leiden musste, bevor er die Befreiung erlangte! Zwar ist die Wahrscheinlichkeit, dass er wieder in die Unwissenheit zurückfallen wird, nicht sehr groß; aber dennoch hat er Angst davor. Der verwirklichte Mensch hingegen ist mit Gott untrennbar eins geworden. Für ihn ist Himmel und Hölle ein und dasselbe; alles ist für ihn gleich, denn er weiß, dass Gott überall ist. Selbst wenn er schlimme Dinge tun würde - er weiß, dass Gott ihn immer festhalten wird, unabhängig davon, ob er Gott festhalten kann oder nicht. Verwirklichte Menschen haben den Zustand des Einsseins erreicht. Verwirklichung ist Einssein, während Befreiung nur die Befreiung von Leiden ist.

Befreite Menschen sind verwirklichten Yogis also weit unterlegen. Sie mögen zwar von der Unwissenheit befreit sein, aber sie sind nicht vierundzwanzig Stunden am Tag eins mit dem Höchsten. Sie werden nichts Schlechtes tun; sie werden nicht wieder in den Vergnügungen der Unwissenheit schwelgen. Doch ein verwirklichter Yogi ist weit, weit über die Unwissenheit hinausgegangen. Und selbst wenn er in die Unwissenheit eintaucht, macht ihm das nichts aus, denn er steht darüber.

Auf der Stufe der Befreiung kann man niemanden erleuchten. Hier kann man jemandem zwar Inspiration schenken und sein inneres Streben vergrößern, aber nicht Verwirklichung gewähren. Befreite Menschen können uns nur dazu motivieren, an unserer eigenen Befreiung zu arbeiten. Wer hingegen verwirklicht ist, hat nicht nur seine eigene Verwirklichung erlangt, sondern kann auch Schüler annehmen, um deren Verwirklichung er sich dann bemüht. Der befreite Mensch kann sehr rein, ja sogar heilig sein, aber er wird nicht einen einzigen schlechten Menschen umwandeln können. Er betrachtet diese als wirklich schlecht und hat Angst davor, von ihnen wieder in die Unwissenheit zurückgezogen zu werden. Ein verwirklichter Yogi jedoch wird sagen: "Ich sehe Gottes Gegenwart in dir", und er wird unter den schlechten Menschen bleiben, um ihre Natur zu verwandeln.

Befreite Menschen streben gewöhnlich nicht die Umwandlung der menschlichen Natur an. Wenn jemand, der völlig befreit ist, sie dennoch anstrebt, wird Gott sie der betreffenden Person unweigerlich gewähren. Für gewöhnlich jedoch will der kurz vor der Befreiung stehende Mensch nur von seinen Anhaftungen und der Unwissenheit entbunden werden, wohingegen der verwirklichte Mensch im Verlauf seiner Verwirklichung völlig transformiert wird.

Darüber hinaus besteht auch wieder ein sehr großer Unterschied zwischen einem Yogi und einem Avatar. Ein Yogi kann zwar im Grunde alles tun, aber nur in beschränktem Maße. Er wird ein Boot haben und darin einige Passagiere befördern können. Doch ein Avatar ist für die ganze Welt da, und auch sein Boot ist für alle da.

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